Die Neandertaler, weit mehr als nur ferne Verwandte des modernen Menschen, haben eine unerwartete Seite ihres Einfallsreichtums offenbart. Eine jüngste Studie beleuchtet ihre Fähigkeit, Steinwerkzeuge mit einem komplexen Klebstoff zu erschaffen, was unser Verständnis ihrer kognitiven Entwicklungsstufe und kulturellen Entwicklung grundlegend verändert.
Forscher der Universität New York, der Universität Tübingen und der Nationalmuseen in Berlin haben Steinwerkzeuge von der Fundstätte Le Moustier in Frankreich, die Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckt wurden, erneut untersucht. Diese Werkzeuge, die aus der Zeit des mittleren Paläolithikums stammen, zeigen Spuren einer Mischung aus Bitumen und Ocker und enthüllen eine bisher unbekannte Technologie der Werkzeugherstellung bei den Neandertalern.
Das Steinwerkzeug wurde mit flüssigem Bitumen, das zu 55 % mit Ocker gemischt war, an einem Stiel befestigt. Es ist nicht mehr klebrig und kann leicht gehandhabt werden. Credit: Patrick Schmidt
Ocker, ein natürliches Pigment, und Bitumen, ein Bestandteil von Asphalt, wurden in erstaunlichen Verhältnissen gemischt, mit mehr als 50 % Ocker. Diese spezifische Zusammensetzung bildete eine formbare Masse, die genug Klebekraft besaß, um das Werkzeug an Ort und Stelle zu halten, ohne dabei an den Händen zu kleben. Eine erfinderische Lösung, die von einer echten Raffinesse in der Werkzeuggestaltung zeugt.
Die mikroskopische Analyse der Abnutzungsspuren an diesen Werkzeugen ergab nicht nur die für scharfe Kanten typische Politur, die zum Bearbeiten anderer Materialien verwendet wurden, sondern auch einen glänzenden Schliff an den vermutlich in der Hand gehaltenen Teilen, ein Ergebnis der Abnutzung durch Ocker. Diese Entdeckung lässt auf einen durchdachten und ausgefeilten Einsatz dieser Werkzeuge schließen und impliziert ein Niveau an komplexem Denken und Planung.
Was diese Studie offenbart, ist die Fähigkeit der Neandertaler, ihre Technologie zu innovieren und anzupassen, ähnlich wie die ersten Homo sapiens in Afrika. Die Notwendigkeit, Ocker und Bitumen von entfernten Orten zu sammeln, unterstreicht den erheblichen Aufwand, die Planung und die zielgerichtete Herangehensweise der Neandertaler bei der Herstellung dieser Klebstoffe.
Mikrografien, die Abnutzungsspuren an einem Werkzeug zeigen, das von den Neandertalern während der mittleren paläolithischen Periode verwendet wurde. Die Positionen der Mikrografien auf dem Artefakt sind auf der Zeichnung (oben links) in Rot angegeben. a) Politur oder Glanz an der aktiven Kante des Werkzeuggriffs. b) Politur unter den Farbflecken im Bereich, der durch den Klebstoff bedeckt war. c) Kante zwischen konkaven Flächen, die durch das Entfernen von Steinstücken entstand, welche abgenommen - statt natürlich abgenutzt - wurden. d) Abgestumpfte oder abgenutzte Kante im greifbaren Bereich, der mit einem Klebstoff bedeckt war. Ein Vergleich von (c) und (d) zeigt, dass der abgenutzte Bereich im durch den klebenden Griff bedeckten Bereich liegt. Die Bilder sind in Mikronen dargestellt. Credit: Zeichnung von D. Greinert, Staatliche Museen zu Berlin.
Die Werkzeuge aus Le Moustier dokumentieren nicht nur die Fähigkeit der Neandertaler, komplexe Klebstoffe zu erschaffen, sondern auch ihre Fähigkeit zu denken und zu handeln mit einer Raffinesse, die der der ersten modernen Menschen gleichkommt. Diese Studie bereichert unser Verständnis von der kulturellen Evolution und den kognitiven Fähigkeiten der frühen Menschen zutiefst.