Von Jacques Treiner – Theoretischer Physiker, Universität Paris Cité
Diese Situation haben Sie bestimmt schon einmal erlebt: sei es bei leichtem Nieselregen oder einem Gewitter, wir betrachten das Problem aus der Sicht der Physik und versuchen zu berechnen, wie viel Wasser auf Sie fällt, abhängig von Ihrer Geschwindigkeit.
Sie sind draußen unterwegs bei unsicherem Wetter, und plötzlich beginnt es zu regnen, während Sie keinen Regenschirm dabei haben. Reflexartig beugen Sie sich nach vorne und beschleunigen Ihre Schritte, richtig? Auf diese Weise hat man das Gefühl, am wenigsten nass zu werden. Man ist möglicherweise sogar bereit, sich etwas mehr zu durchnässen, wenn der Regen dafür schneller vorbeigeht.
Ist dieses Verhalten gerechtfertigt? Kann ein Modell entwickelt werden, das diese hochwichtige Frage beantwortet? Hängt die Menge des empfangenen Regens insbesondere von der Geschwindigkeit ab? Gibt es eine Geschwindigkeit, bei der die Menge des Regens, den man abbekommt, wenn man von einem Ort zum anderen geht, minimiert wird?
Machen wir es einfach, während wir die wichtigen Elemente der Situation beibehalten. Stellen Sie sich einen gleichmäßig fallenden Regen vor, der senkrecht fällt. Schematisch kann man sich vorstellen, dass der Spaziergänger dem Regen vertikale Flächen (Vorder- und Rückseite des Körpers) und horizontale Flächen (Kopf und Schultern) darbietet.
Betrachten wir zuerst die vertikalen Flächen. Beim Voranschreiten geht der Spaziergänger den Regentropfen entgegen: je schneller er geht, desto mehr Tropfen empfängt er. Aus seiner Sicht fallen die Tropfen schräg, wobei die horizontale Geschwindigkeit genau seiner eigenen Gehgeschwindigkeit entspricht: je schneller er geht, desto mehr Tropfen empfängt er. Allerdings benötigt er auch weniger Zeit, um von einem Punkt zum anderen zu gelangen, und zwar umso weniger, je schneller er geht! Man sieht also, dass sich die beiden Effekte genau ausgleichen: mehr Tropfen pro Zeiteinheit, aber weniger Zeit, die man dem Regen ausgesetzt ist.
Wie sieht es bei den horizontalen Flächen aus? Wenn der Spaziergänger stillsteht, erhält er den Regen nur auf diesen Flächen. Wenn man ihn sich jedoch beim Fortschreiten ansieht, erkennt man, dass er Tropfen empfängt, die ihm zuvor entgegengekommen wären, aber er empfängt keine Tropfen mehr, die nun hinter ihm landen: insgesamt empfängt er auf diesen horizontalen Flächen pro Zeiteinheit unabhängig von seiner Gehgeschwindigkeit eine konstante Menge. Da jedoch die Dauer des Spaziergangs abnimmt, wenn die Geschwindigkeit zunimmt, wird die Menge des Regens, die auf diesen Flächen empfangen wird, geringer.
Insgesamt hat man also durchaus recht, die Schritte zu beschleunigen.
Für all jene, die eine mathematischere Herangehensweise schätzen, folgt hier eine befriedigende Erklärung:
Bezeichnen wir mit ρ die Anzahl der Tropfen pro Volumeneinheit und mit a deren vertikale Geschwindigkeit. Bezeichnen wir mit Sh die horizontale Fläche des Individuums und mit Sv seine vertikale Fläche.
Wenn man stillsteht, regnet es nur auf den Kopf und die Schultern, also ist das die Menge an Wasser, die auf die Oberfläche Sh fällt.
Auch wenn der Regen vertikal fällt, scheint er aus der Perspektive des Spaziergängers, der mit der Geschwindigkeit v voranschreitet, schräg anzukommen, in eine Richtung, die von der Geschwindigkeit v abhängt.
Während eines Zeitintervalls T legt ein Tropfen eine Strecke a.T zurück. Also erreichen alle Tropfen, die sich in einer geringeren Entfernung befinden, diese Fläche: es sind die Tropfen, die sich in dem Zylinder mit der Grundfläche Sh und der Höhe a.T befinden, also:
ρ.Sh.a.T.
Wie wir bereits gesehen haben, scheinen die Tropfen, sobald man sich bewegt, eine schräge Geschwindigkeit zu haben, die sich aus der Kombination von a und v ergibt. Die Anzahl der Tropfen, die Sh erreichen, bleibt unverändert, da die Geschwindigkeit v horizontal ist, also parallel zu Sh. Hingegen ist die Anzahl der Tropfen, die Sv erreichen, die, als der Spaziergänger stillstand, null war, nun gleich der Anzahl der Tropfen, die sich in einem (horizontalen) Zylinder mit der Grundfläche Sv und der Länge v.T befinden, da diese Länge genau die horizontale Strecke darstellt, die die Tropfen während dieses Zeitintervalls zurücklegen.
Insgesamt empfängt der Spaziergänger eine Anzahl Tropfen, die durch den Ausdruck gegeben ist:
ρ.(Sh.a + Sv.v). T.
Nun muss man das Zeitintervall berücksichtigen, während dessen der Spaziergänger nass wird. Muss er eine Entfernung d mit konstanter Geschwindigkeit v zurücklegen, so wird das Zeitintervall durch das Verhältnis d/v bestimmt (was natürlich voraussetzt, dass v nicht null ist!). Setzt man dies in den obigen Ausdruck ein, erhält man das Endergebnis:
ρ.(Sh.a + Sv.v). d/v = ρ.(Sh.a/v + Sv). d.
Damit erhalten wir das doppelte Ergebnis:
- Zum einen wird die Menge des auf Kopf und Schultern empfangenen Regens umso kleiner, je größer die Geschwindigkeit ist.
- Zum anderen bleibt die Menge des auf den vertikalen Teil des Körpers empfangenen Regens unabhängig von der Geschwindigkeit, da die Verkürzung der Gehzeit exakt durch die Zunahme der empfangenen Tropfen ausgeglichen wird.
Fazit: Man hat also durchaus recht, sich zu beugen und schneller zu gehen! Aber Vorsicht, sich zu beugen vergrößert Sh: diese Vergrößerung muss also durch die Zunahme der Geschwindigkeit ausgeglichen werden!